Eine sehr schöne Antwort auf diese Frage hat die bekannte Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki gefunden:
„Therapie ist eine tolle Abenteuerreise.“
neue Wege beschreiten
Ich kann mich ihr nur anschließen. Wie alle Kolleginnen und Kollegen, durfte ich im Laufe meiner Ausbildungen sehr viel Selbsterfahrung mit Therapie machen. Und jede habe ich als Wachstumsschritt zu mehr „ich selbst sein“ erfahren.
Reisen faszinieren uns ja vor allem, weil wir Neues erleben, unbekannte Landschaften entdecken, faszinierende Menschen treffen, fremde Gewohnheiten und andere Sprachen kennenlernen und – vielleicht sogar vor allem – uns einfach selbst mal fern von Stress und Alltag erleben und ausprobieren können.
Wenn ich auf Reisen bin, stelle ich immer mit Verwunderung und Freude fest, wie wenig ich eigentlich brauche. Manchmal schaffe ich es sogar, die eine oder andere Entschlackungsidee für meinen Alltag in diesen rüber zu retten.
Und dann kommen mir beim Reisen, in der Bewegung oft die besten Ideen. Ich schlage vor, Deine Ideen festzuhalten! Vielleicht legst Du Dir dafür ein kleines Notizbuch zu, in dem Du jeden Einfall festhältst – jeden. Bewerte nicht. Du brauchst ja später nicht alles umsetzen. In solchen Situationen spricht Dein Unbewusstes zu Dir. Oder nennen wir es Dein höheres Selbst, das in solchen Situationen zu Dir spricht. Vielleicht gibt es Dir zu verstehen, wie Du Dich selbst (noch) glücklicher machen kannst.
So wie eine Reise uns all das im Außen bietet, können wir es bei einer Therapie in unserem Inneren erleben. Du ahnst wahrscheinlich gar nicht, welcher Reichtum an Landschaften in Dir steckt.
Nimm eine neue Perspektiven ein, gehe unbekannte Wege, triff auf einen faszinierenden Menschen, mit vielen aufregenden Facetten – Dich selbst. Und zwar das Selbst, das lange verborgen war hinter all den Panzern und Masken, die Du Dir einmal zulegen musstest, um im Leben zu bestehen. Das Selbst, das neu und weich, rein und unbeschädigt ist. Das Selbst, dem Du alleine all das geben kannst, das Du bisher im Außen gesucht hast. Das Selbst, dass Du lieben kannst und mit dem Du das breite Fundament aufbauen kannst, das Dich stark macht. Dein Inneres Kind!
Im Laufe der Zeit findest Du vermutlich einige Innere Kinder, die von Dir gehalten und befreit werden wollen.
Heute bist Du nicht mehr das bedürftige und hilflose Wesen, das Du damals als Kind warst. Und alte einschränkende Glaubenssätze haben schon lange ihre Gültigkeit verloren. Trotzdem hältst Du vielleicht noch an eingeübten Verhaltensweisen fest, die Du damals – in einer Zeit, an die Du Dich womöglich nicht einmal mehr erinnern kannst – brauchtest, um zu überleben. Doch jetzt bist Du groß, neue Wege stehen Dir offen. Und Du kannst heute lernen, Dich wohlwollender zu behandeln, als Du möglicherweise als Kind behandelt wurdest. Diesen Schritt kannst Du mit dem Erlernen einer neuen Sprache auf Deiner Reise vergleichen.
Vielleicht möchtest Du Dich schon jetzt einmal Deiner aktuellen inneren Landschaft zuwenden! Lehne Dich zurück und schließe für ein paar Momente die Augen. Stell Dir Deine seelische Verfassung als Landschaft vor. Wie sieht diese Landschaft aus? Welche Temperatur hat Deine inneren Landschaft? Scheint die Sonne, regnet oder schneit es? Gefällt Dir das Wetter dort? Und sind die Auswirkungen von Sonne, Regen oder Wind auf diese Landschaft angenehm, nährend oder schon zu viel? Ist diese Landschaft gesund, lebendig, hat sie alles was sie braucht? Oder gibt es Dinge, die fehlen? Was kannst Du dieser Landschaft geben – wie ein Gärtner, ein Landschaftspfleger? Willst Du Neues sähen, Vertrocknetes fort schaffen? Wolken beiseite schieben oder endlich Regen bringen? Wenn die Landschaft dich bedrückt, gib ihr einen Bilderrahmen und schiebe sie ein Stück weg von Dir. Gerade so weit, dass es einfacher wird, sie zu betrachten. Und nah genug, um sie weiter zu betreuen und zu sehen, wie sie sich entwickelt. Welche Bilder tauchen auf? Was bedeuten sie für Dich? Heile Deine Landschaft! Und spüre, wie Du Dich schon ein bisschen wohler fühlen kannst.
Du kannst Dir Therapie auch als Wellness für die Seele vorstellen. In dieser Wellness-Oase kann in positiven Gefühlen gebadet werden. Neue Seinsweisen können wie ein weicher Bademantel ausprobiert werden. Und aus jedem Bad steigt man als neuer Mensch.
„Denen, die in dieselben Flüsse steigen, fließen immer neue Wasser zu und immer neue Seelen entsteigen dem Nass.“ Heraklit
Es kommt aber auch schon mal vor, dass es ist wie bei einer kräftigen Massage. Erst tut es ein bisschen weh, vielleicht fließen sogar Tränen. Doch es sind befreiende Tränen. Und dann fühlst Du Dich wie neu geboren, schwebend, leicht. Und vor allem befreit – wie nach einem Saunaaufguss mit ätherischen Ölen, der die Atemwege weit öffnet.
Denn eine Therapie eröffnet vor allem Wahlmöglichkeiten. Vielleicht fühlst Du Dich ja gefangen in Mustern, die Dich Deinem Ziel nicht näher bringen, die Du aber umso verzweifelter wiederholst, vielleicht sogar verteidigst? Es ist ein bisschen so, wie früher bei den Aderlässen. Wenn der/die Kranke nicht kuriert werden konnte, wurde die Prozedur so oft wiederholt, bis zufällig doch eine Genesung eintrat oder er oder sie an Blutmangel starb. Trotzdem wurde diese Art der Behandlung verteidigt. Besser ist es aber doch, andere Strategien zu finden und auszuprobieren. Das ist nicht ganz leicht, aber machbar. Es beginnt, wenn Du lernst, kurz innezuhalten, bevor Du Deine automatische Reaktion ablaufen lässt. Dann setzt Du vorsichtig einen Fuß auf einen ganz neuen Weg.
Erkunde dieses unbekannte Terrain und mache es zu Deiner neuen Heimat, wenn es für Dich passt. Sonst biegst Du ab und probierst einen anderen Weg. Dich neu verorten, Dich neu beheimaten. Dabei kannst Du auch endlich alte, falsche Sicherheiten loslassen und gewinnst so neue Selbstsicherheit. Dich ausprobieren, neue Gewänder anlegen, alte Häute abstreifen und darunter Dich selber finden.
Es ist verrückt, immer wieder dasselbe zu machen und neue Ergebnisse zu erwarten.” Albert Einstein
Als ich an einem der wunderbar warmen Sommerabende vergangenes Jahr durch durch Berlin spazierte, hörte ich immer wieder ein lautes Platschen. Große Rindenstücke fielen von den Platanen in der Straße herab. Irgendwann verfehlte mich ein besonders großes Stück nur knapp. Ich bekam einen ordentlichen Schreck.
Es fiel mir sozusagen wie Schuppen nicht nur vor die Füße sondern auch von den Augen: Die Platanen häuteten sich. Ihr altes Kleid war ihnen zu eng geworden. Und anders als uns Menschen fällt es den Platanen ganz leicht, ihr Korsett zu sprengen und einfach von sich zu werfen.
Kurze
Zeit später hörte ich im Radio die botanische Erklärung. Im
vergangenen Frühjahr hatte es viel geregnet, kurz darauf wurde es
sehr warm, für die Platanen beste Voraussetzungen für einen
gewaltigen Wachstumsschub. Sie können gar nicht anders, als ihre
alte Rinde abzuwerfen, um weiter zu wachsen.
Wie schön wäre es, wenn wir unsere zu klein gewordenen Panzer auch so leicht los werden könnten. Also alte Verhaltensmuster, einschränkende Selbstwahrnehmungen oder falsche Glaubenssätze einfach ablegen, wenn wir wachsen, reifer werden, uns weiter entwickeln. Leider geht es meistens nicht so leicht. Statt dessen lernen wir oft neue Muster dazu und packen sie als weitere Panzer über die alten. Das macht das Leben nicht leichter!
„Wann
immer Sie sich anstrengen, ist es eine Botschaft des Lebens, dass es
anders leichter ginge.“
Kurt
Tepperwein
Im Laufe des Lebens entwickeln wir unsere Verhaltensweisen und manchmal leider auch Symptome. Sei es aggressives Auftreten oder eine ganz besonders fürsorgliche Art, sei es ein Leben als Mauerblümchen oder als Klassenclown oder auch eine ernsthafte psychische Störungen wie z.B. Depressionen oder psychosomatische Krankheiten. Häufig sind das „Strategien“, die wir schon als Kinder gelernt oder von unseren Eltern vorgelebt bekommen haben. Manchmal sind es Krankheiten oder Störungen, die unsere Seele wählt, um auf ihre Not aufmerksam zu machen. Sehr oft sind es Wege, die damals für uns hilfreich waren, uns inzwischen aber sogar behindern.
Sehr hinderlich sind im späteren Leben Reflexe, die wir aus Situationen in der Kindheit „mitgenommen“ haben, in denen wir uns bedroht fühlten. Das passiert schon, wenn ein Kind von seinen Eltern oder Geschwistern beschämt wird. Das Gefühl der Scham signalisiert dem Gehirn Gefahr, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Für die Gesellschaft (von Erwachsenen) ist das ein Regulativ, das das Zusammenleben vereinfacht. In der Kindererziehung ist es verheerend. Noch dramatischer sind natürlich traumatische Erfahrungen wie Misshandlung oder Missbrauch.
Ein Kind fühlt sich oft gezwungen, sich von den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu distanzieren. Das geht schon los bevor es überhaupt in der Lage ist zu verstehen, was die Erwachsenen eigentlich von ihm wollen. Und immer dann entstehen neue Panzer, die uns einerseits schützen sollen, aber im Laufe des Lebens unsere Bewegungsfreiheit immer stärker einschränken.
Leicht vorstellbar, wie diese Panzer uns beeinträchtigen. Je mehr Panzer wir im Laufe unseres Lebens anlegen mussten, umso schwieriger wird es, uns überhaupt noch zu bewegen. Aber Leben ist Bewegung. Ohne Bewegung bleiben wir auf der Stelle, wir entwickeln uns nicht mehr, sondern verteidigen unseren Status Quo, nur um unseren Schmerz über ungelebtes Leben nicht spüren zu müssen.
Schon in frühester Kindheit fangen wir also an uns zu panzern. Wenn wir in die Welt kommen sind wir völlig hilflos und ohne unsere Eltern nicht lebensfähig. Zudem haben wir noch kein Konzept, dass uns verstehen lässt, warum wir nicht immer das bekommen, was wir gerade am nötigsten brauchen.
Ob wir hungrig sind oder durstig, frieren oder Bauchschmerzen haben oder einfach Angst, weil niemand in der Nähe ist, wir haben nur ein Mittel uns mitzuteilen. Und das ist Schreien. Leider können auch die einfühlsamsten Väter und Mütter darauf nicht immer richtig eingehen, mit schlimmen Folgen. Nur ein Baby, dessen Bedürfnisse in den ersten Monaten zuverlässig befriedigt werden, kann sein Beruhigungssystem ausbilden. Die zuständigen Gene müssen erst angeschaltet werden. Dieser Vorgang stellt schon ganz am Beginn eines Menschenlebens wichtige Weichen. Klappt er nicht, bleibt das Kind sein Leben lang auf einem erhöhten Stressniveau und das Risiko für Schlaf- und Angststörungen oder Depressionen im späteren Leben erhöht sich enorm. Depressionen wiederum erhöhen das Risiko an bestimmten Krebsarten zu erkranken.
Weil wir uns als Babys nicht selbst helfen können, kommen wir Menschen mit einem voll funktionsfähigen Stress-System auf die Welt. Wir müssen Alarm schlagen können! Und wir müssen uns darauf verlassen können, dass sich unsere Eltern dann um uns kümmern. Nur so können wir lernen, uns später selbst zu beruhigen.
Stresstoleranz
ist also keineswegs angeboren sondern erworben. Das gilt übrigens
für alle Säugetiere. Ausgiebig bemutterte Junge werden als
erwachsene Tiere stressresistenter, haben eine höhere
Frustrationstoleranz und sind lernfähiger, genau wie Menschenkinder.
Wichtig ist für alle die Anwesenheit und Fürsorge einer konstanten,
liebevollen Bezugsperson.
Wer
mehr darüber erfahren will, dem sei eine Buchpräsentationen von
Joachim Bauer ans Herz gelegt, die er im Rahmen der Reihe ‚Wissen
fürs Leben‘ bei der AK Vorarlberg gehalten hat. (Youtube ‚Das
Gedächtnis des Körpers‘ auf dem Kanal der AK Vorarlberg –
https://www.youtube.com/watch?v=VcBHhEDSwbo)
Aber zurück zu den Panzerungen. Mir erscheint dieses Bild, das auch von der Bioenergetik benutzt wird, sehr passend, da unsere eingeübten Muster uns ja ursprünglich vor Gefahren schützen sollten. Und zu dem Zeitpunkt, an dem wir ein Verhalten erlernen tut es das im Allgemeinen auch.
Schwierig wird es, wenn die Panzer immer zahlreicher werden und aufgrund geänderter Lebensumstände einfach nicht mehr passen. So kann z.B. eine Frau sehr in sich gekehrt und schüchtern sein, weil sie in der Kindheit dadurch den Attacken eines jähzornigen Vaters oder einer strafenden Mutter entgangen ist.
Jetzt ist sie erwachsen und kann sich dadurch vielleicht im Beruf nicht behaupten, wird immer übergangen und wünscht sich daran etwas zu ändern. Statt ihren Panzer Schüchternheit abzulegen, trainiert sie ein bestimmteres Auftreten. Das ist zunächst vielleicht einfacher, packt aber letztlich nur einen weiteren Panzer auf die bestehenden. Mit der Zeit wird die Last so immer schwerer und die Panzer immer erdrückender. Es kann sogar sein, dass der gewünschte Erfolg im Beruf oder im Privatleben sich einstellt. Aber dieses Leben verzehrt immer mehr Energie. Es fehlen Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit und Freiheit.
Oder nehmen wir Sebastian. Er ist ein Mann, dem beruflicher Erfolg immer über alles ging. Mit Mitte vierzig muss er feststellen, dass seine 60 Stunden Arbeitswoche seinem Herz zu schaffen macht. Seine Ärztin rät zu Entspannungstraining. Sebastian entscheidet sich für einen Yogakurs, um in Zukunft „etwas für sich zu tun“. Den besucht er dann dreimal wöchentlich, gewöhnt sich auch eine regelmäßige Meditationspraxis an und wird tatsächlich etwas entspannter. Sogar seine Arbeitszeit konnte er auf ca. 50 Stunden pro Woche reduzieren, was ihm durch veränderte Organisation, Setzen von Prioritäten und mehr Delegieren gut gelingt. Ein Wochenendseminar hat geholfen, diese Schritte umzusetzen. Sein Chef lobt ihn, weil er noch bessere Ergebnisse für sein Unternehmen bringt, noch effizienter geworden ist. Sebastian genießt die Anerkennung. Er kann sein Ego weiter mit genau dem füttern, was er seit seiner Kindheit als Nahrung für seine Seele kennengelernt hat.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Yoga und Meditation sind wundervoll. Und auch Sebastian profitiert davon. Bei ihm wird es trotzdem nur zu einem weiteren Panzer. Bald beginnt er, auch beim Yoga Erfolge einzufahren. Er weicht keinen Millimeter von seinem Jahrzehnte eingefahrenen Gleis ab. Doch dieser Weg ist kräftezehrend. Und macht er ihn wirklich glücklich?
Sein
unstillbares Verlangen nach Erfolg hält er für einen produktiven
„Hunger“, ein Bild, das er von seinem ehemaligen Trainer
übernommen hat. In seiner Jugend war Sebastian Leistungssportler.
Sein Trainer sprach oft von diesem „Hunger“, als dem wesentlichen
Merkmal der „Sieger“. Und diesen Hunger müsse man sich erhalten,
um es zu etwas zu bringen. Seit damals hat Sebastian ein Wort für
seine Art im Leben zu sein.
Hunger
ist ein passendes Wort. Und Sebastians Hunger ist unstillbar. Er
hätte die Trainerworte nicht gebraucht. Er wurde schon früh auf
Erfolg getrimmt.
„Erfolg
oder Misserfolg ist nicht wichtig, die Stimmigkeit ist wichtig.“
Alfried
Längle
Seine
Eltern konnten ihm das Gefühl um seiner selbst willen geliebt zu
werden nicht geben. Sein Vater behandelte ihn nach der Devise „nicht
geschimpft ist genug gelobt“. Er hatte selten Zeit für seinen Sohn
und wenn er sich mal mit ihm beschäftigte, erzählte er meisten von
sich und seinen Leistungen. Seine Mutter kontrollierte immer seine
Schulaufgaben und lobte ihn überschwänglich für gute Noten.
Ansonsten gab es auch von ihr wenig Beachtung, von Zärtlichkeit oder
Mitgefühl ganz zu schweigen. Hatte er sich mal die Knie
aufgeschlagen, sagten beide nur: „Hättest halt besser aufpassen
müssen.“
Vor
Verwandten und Bekannten erzählten beide Eltern aber immer viel von
den Leistungen ihres Sohnes. Er hatte schon im ersten Schuljahr das
beste Zeugnis der Klasse, er war schon mit 14 Monaten „trocken“,
er hatte schon mit 10 Monaten angefangen zu laufen. Sebastian stand
daneben, fühlte sich bewertet, aber immerhin geschätzt. Bewertung
wurde für ihn wie die Luft zum Atmen. Und je älter er wurde, umso
mehr jagte er dem Gefühl geschätzt und anerkannt zu werden
hinterher.
Leider füllt Anerkennung den Ort in unserem Innern an dem Liebe gebraucht wird nie.
So
kam es dazu, dass Sebastian die Hilferufe seines Herzens als
Aufforderung zu einem Mehr an Leistung, missverstanden hat.
Yoga und Meditation werden so leider nur zu weiteren Panzern, die er sich anlegt, um sich selbst, seinen wahren Kern, und die Bedürftigkeit seines innerenKindes nicht zu spüren. Man will ihn wachrütteln: „Schau hin, entdecke deine Liebe und dein Mitgefühl für diesen kleinen Jungen, den du schon so lange überforderst!“ Würde er es verstehen?
Anfangs scheint es schwer. Doch jeder kann lernen das verletzte und einsame innere Kind zu spüren und sich ihm liebevoll zuzuwenden.
Schon wenige Schritte auf diesem neuen Weg helfen, allmählich die schweren und lange schon zu engen Panzer einen nach dem anderen abzulegen. Dann wird endlich die ganze eingefrorene Lebendigkeit befreit, kann die in uns steckende Kreativität sich ausdrücken. Und mit Erstaunen stellen wir fest, dass dieser Kern, den wir für beschädigt gehalten hatten, immer heil geblieben ist. Dass er nur einsam und traurig war und eingeschnürt in viele Panzer. Wir sprengen sie, wenn wir beginnen uns selber das zu geben, was uns als Kind gefehlt hat.
Als kleine Kinder waren wir schwach, schutz- und hilflos. Von der Unterstützung durch unsere Eltern hing tatsächlich unser Leben ab. Deshalb sind alle Menschen von Anfang an auf Bindung programmiert. Können Eltern diese Bindung nicht geben, vielleicht weil sie keine Zeit haben, depressiv sind oder selber nie genug davon bekommen haben, leiden Kinder sehr. Sie hängen trotzdem an ihren Eltern und lieben sie. Sie nehmen das, was sie bekommen und halten es für das Wertvollste im Leben. So wie Sebastian, der immer noch glaubt, sein Wert hinge von seiner Leistung ab und nur durch Leistung könne er sich Anerkennung als Ersatz für Liebe sichern. Mit dieser Anerkennung wird er möglicherweise sein Leben lang versuchen, seinen Hunger nach Liebe zu stillen. Es wird vergeblich sein, der Platz für Liebe bleibt leer und der Platz für Anerkennung bleibt ein Fass ohne Boden. Nie genug, weil es nie das richtige ist.
Der Volksmund sagt „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Doch das stimmt nicht. Neurobiologie- und Hirnforschung haben zweifelsfrei bewiesen, dass unser Gehirn bis ins hohe Alter plastisch bleibt, also immer wieder Neues lernen kann.
Immer, wenn ich heute durch die Straßen gehe, fällt mir auf, wie schön die Platanen in ihren hellen, frischen Gewändern aussehen. Bereit neue Wachstumsschritte zu vollziehen, da die neuen Kleider noch flexibel sind und jede Bewegung leicht und bereitwillig mitmachen. Wir können von ihnen lernen.
Ich setzte einen Fuß in die Luft und sie trug. Hilde Domin
Ich erinnere mich noch an das erste Buch, das ich geschenkt bekam. Wobei
geschenkt es nicht ganz trifft. Redlich verdient hatte ich es mir.
Ich war drei Jahre alt.
Meine
Eltern meinten damals, ich sollte mich von meinem Schnuller trennen.
Und um mir das zu versüßen, versprachen sie mir ein Märchenbuch.
Also verzichtete ich auf den Schnuller. Eines Abends stand ich dann
in der großen Wohnküche meiner Oma. Ich wusste nicht was los war,
aber der Augenblick war feierlich. Und ebenso feierlich überreichte
mein Vater mir ein sehr dickes Buch. Ich erinnerte mich nur dunkel an
die Vereinbarung und nahm es verwirrt entgegen. Als ich es aufschlug,
war ich enttäuscht. In dem Buch fand ich nur viele Buchstaben. Ich
konnte aber doch nicht lesen!
Seit
damals ist viel Zeit vergangen, aber ich erinnere mich noch klar an
diesen Abend. Ich habe damals eine wichtige Erfahrung gemacht, war
aber viel zu klein, um daraus etwas lernen zu können.
Damals
fragte ich mich, warum ich dieses Buch hatte haben wollte? Ich
blätterte darin herum und fand ein paar Bilder. Es waren
Tuschezeichnungen, sehr düster, nichts für ein so kleines Kind.
Sollte ich mich freuen? Es war doch die Belohnung für tapferen
Verzicht. Also akzeptierte ich, dass dieses Buch wohl mein Traum
gewesen war.
Heute
frage ich mich, wie oft wir verführt werden, uns Träume verkaufen
zu lassen, die wir nie geträumt haben. Träume, die wir von Eltern,
Lehrern, Hochglanzmagazinen oder der Werbung übernehmen. Wie oft
empfinden wir Dinge als erstrebenswert, weil jemand anders sie uns so
verkauft, weil alle es so machen oder nur weil sie teuer und Symbole
für Macht und Erfolg sind?
Die
lebhafte Erinnerung an mein Kindheitserlebnis führt mich auch zu der
Frage: „Arbeiten wir hart, weil wir etwas haben wollen oder wollen
wir etwas haben, weil es uns als Lohn für harte Arbeit erscheint?“
Noch
wichtiger vielleicht: Für was sind wir bereit, Energie und
Lebenszeit zu opfern? Was hat für uns Wert? Welches Leben wollen wir
aus unserem tiefsten Herzen leben? Wie werden wir (wieder) ganz und
glücklich? Stellen wir uns diesen Fragen nicht, sind wir in Gefahr,
an unserem ureigenen Leben vorbei zu leben.
Der
Ursprung vieler Krisen ist ungelebtes „echtes Leben“. Wer schon
als sehr kleines Kind fremde Träume übernehmen oder die Wünsche
seiner Eltern erfüllen musste, verliert den Kontakt zu sich selber.
Ohne diesen haben wir aber kein stabiles Fundament.
Der
Verlust des Kontaktes zu unserem Wesenskern beginnt oft schon in den
ersten Lebenswochen. Alice Miller drückte es in Das
Drama des begabten Kindes
so aus: Die
Eltern sind auf ein bestimmtes „So-sein“ ihres Babys angewiesen.
Sie sind dann stolz auf ein Baby, das durchschläft, schnell trocken
ist, ein tapferes Kind, das nicht weint wenn es sich wehtut, ein
vernünftiges Kind, das schon mit vier Jahren Rücksicht nimmt auf
seine müden Eltern oder keinerlei Anzeichen von Eifersucht zeigt,
wenn ein Geschwisterchen geboren wird. Doch es sind resignierte
Kinder, die oft schon früh den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen,
Gefühlen und Wünschen aufgeben mussten. Sie übernehmen den Stolz
der Eltern auf ihre Fähigkeit sich selbst zu verleugnen. Sie können
sich selbst nicht mehr spüren und vergessen ihre eigenen Träume, um
sich angenommen und liebenswert zu fühlen.
Der
Weg, auf dem fremde Maßstäbe und Träume übernommen werden, wird
so in der Kindheit gebahnt und mit den Jahren zur Autobahn ausgebaut.
Dann reichen schon Kleinigkeiten, um am Selbst und dem eigenen
Lebensstil zu zweifeln, um fremde Werte zu übernehmen. Wie schnell
verspricht man sich von allerlei Lifestyletipps endlich Erfüllung
und Lebensglück! Doch letztlich sind es nur
Selbstoptimierungsmaßnahmen, als „Wellness“ getarnt oder in Form
von Armbändern, die jeden Schritt aufrechnen und uns unsere
sportliche Bilanz vor Augen halten. Und anstatt glücklicher fühlt
man sich am Ende nur wieder unzulänglich. Nicht schön genug, nicht
schlank genug, nicht reich genug, nicht glücklich genug.
Dabei bedeutet wirklich glücklich sein „nur“, mit sich selbst im Reinen, sein Leben an seinen eigenen Werten auszurichten. Der bekannte österreichische Psychotherapeut Alfried Längle sagt: „Erfolg oder Misserfolg ist nicht wichtig, die Stimmigkeit ist wichtig.“ Darauf kommt es an. Wahres Glück verspürt nur, wer in Übereinstimmung mit seinen eigenen Werten und Träumen lebt. Nur dann können einem die unvermeidlichen Wechselfälle des Lebens nicht viel anhaben.
Viele
Menschen kämpfen mit Depressionen, Sucht, Essstörungen, Burnout und
psychosomatischen Beschwerden, deren seelische Ursache oft lange
verborgen bleibt. Und je mehr sie versuchen sich zu perfektionieren,
umso mehr verkommt der Weg zu den eigenen Träumen zu einem
überwucherten Pfad, der mit der breit ausgebauten Autobahn der
falschen Träume und fremden Ziele nicht konkurrieren kann.
Unser Gehirn ist nämlich ein Schlawiner. Es übertölpelt uns, weil jede Veränderung energieaufwendig ist. Statt wirklich etwas im Leben zu verändern, wird oft nur nach Möglichkeiten gesucht, den eingeschlagenen Weg schneller und effektiver zu befahren. Albert Einstein wird der Satz zugeschrieben, „Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten!“
Aber
so funktioniert unserer Gehirn. Es ist
auf Sparsamkeit programmiert und schüttet Belohnungsstoffe aus, wenn
wir immer und immer wieder das gleiche tun. Diese Botenstoffe sind
wie Drogen, sie machen süchtig. Und so fährt man jahrein, jahraus
auf der Autobahn, die man seit seiner Kindheit kennt.
Je
mehr Zeit vergeht, umso selbstverständlicher erscheint der
eingefahrene Weg. Ob wir uns auf dieser Bahn unseren Zielen nähern?
Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir mehr Überblick. Dieser
ganzheitliche Blick gelingt, wenn wir uns mit unserem inneren Kind
verbünden.
Stellen
Sie sich einen Haufen mit tausend Steinen vor. Hat ein Mensch keine
Verbindung zu seinem inneren Kind, ist sein oder ihr Selbstwertgefühl
wie ein Turm aus übereinander getürmten Steinen. Der Turm ist
wacklig und bevor alle Steine verbaut sind, wird irgendein kleines
Missgeschick den Turm zusammenbrechen lassen. Es dauert lange, den
Turm neu zu errichten. Mit jedem Erfolg kommt ein neuer Stein nach
oben und wir balancieren voller Angst vor dem nächsten Sturz auf
seiner Spitze.
Ein
Mensch, der in liebevoller Verbundenheit mit seinem inneren Kind die
eigenen Träume lebt, hat dagegen ein sicheres, breites Fundament.
Darauf baut das Selbstwertgefühl auf wie eine Pyramide. Geht etwas
schief, kann schon mal ein Stein von oben runterpruzeln. Na und? Man
atmet tief durch, schüttelt sich und steht nur eine Etage tiefer als
vorher. Bei Gelegenheit legt man den Stein wieder an seinen Platz und
ist schon wieder „oben auf“.
Als
Kind waren Sie klein und hilflos und konnten nicht anders, als den
Vorstellungen der Erwachsenen zu folgen. Aber heute sind Sie
erwachsen und stark. Wenn Sie diese Stärke nicht spüren können,
dann weil Ihnen Ihre Träume schon genommen wurden, als Sie noch sehr
klein waren. Dass Sie Ihre Energie beim Verfolgen fremder Ziele
verlieren, dass Sie nicht auf Ihr stabiles Fundament vertrauen
können.
Ihr
inneres Kind ist das liebenswerteste Wesen, dem Sie auf diesem
Planeten begegnen können. Glauben Sie das nicht? Dann konnten Ihnen
Ihre Eltern wahrscheinlich nicht die Liebe und Fürsorge geben
können, die Sie gebraucht und verdient haben. Verbünden Sie sich
mit Ihrem inneren Kind und Sie finden bei sich, was Sie bisher bei
anderen suchen. Es kann sein, dass sie mit ihm einige seiner
Verletzungen und Schmerzen noch einmal spüren müssen. Vielleicht
müssen Sie zusammen mit ihm ein paar Tränen vergießen. Aber diese
Trauer vergeht schneller als sie gekommen ist und einschränkende
Glaubenssätze verlieren ihre Macht. Dieser Prozess macht Sie
stärker, glücklicher und liebevoller. Danach sind Sie bereit, nach
Ihren eigenen Werten zu leben, Ihre Ziele selbst zu bestimmen und
echte Verbundenheit mit anderen Menschen tiefer zu erleben. Besonders
wenn Sie eigene Kinder haben, sollten Sie mit Ihrem inneren Kind in
Harmonie und tiefer Verbundenheit leben. Denn Sie können nicht
weitergeben, was Sie nicht haben.
Es
ist nie zu spät, den überwachsenen Trampelpfad zu den eigenen
Träumen zu beschreiten und ihn so allmählich zu einem angenehmen
Weg auszubauen. Es ist das Abenteuer Ihres Lebens, der Weg zu Ihrem
Lebensglück. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus forderte der
griechische Philosophen Pindar seine Zeitgenossen auf: „Werde, der
Du bist!“